Gesichtserkennung, Mathematik als Beziehungsratgeber und das berechnete Unterbewusste – die osteuropäische Sozionik verspricht kuriose Dinge. Ein Blick hinter die Kulissen.
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Clik here to view.Glaubt man den Behauptungen der Sozionik (Socionics im englischen), so lassen sich damit wundersame Dinge anstellen: anhand eines Portraitbildes kann der Persönlichkeitstyp einer Person festgestellt werden, die Beziehungen zwischen zwei Menschen laufen stets nach einem vorhersagbaren Muster ab und es lässt sich bis ins Detail erklären, wie das bewusste und unterbewusste Verhalten einer jeden Person funktioniert.
Doch von Anfang an: was steckt hinter der Sozionik?
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Erstaunliche Ähnlichkeit mit Joschka Fischer: Ausra Augustinavičiūtė
Socionics / die Sozionik ist eine Persönlichkeitstheorie mit vielen Anwendungsbereichen und wurde in der ehemaligen Sowjetunion der 70er Jahre von einer Litauerin mit dem für uns unaussprechlichen Namen Aušra Augustinavičiūtė entwickelt.
Die Persönlichkeitstheorie der Sozionik hat übrigens nichts mit dem gleichlautenden deutschen Begriff Sozionik (Mischung aus Soziologie und Informatik) zu tun.
Die Grundlagen der Sozionik sind die 1921 von Carl Gustav Jung beschriebenen Charaktereigenschaften, die auch bei den heute aktuellen, wissenschaftlichen Big Five Tests ähnlich definiert werden, und im Typentest Extrovertiert-Introvertiert, Praktisch-Theoretisch, Hart-Kooperativ und Spontan-Geplant heißen.
Die Persönlichkeitstheorie der Sozionik basiert auf diesen psychologischen Typen Jungs und nutzt daher die gleichen 16 Typen wie der Typentest Persönlichkeitstest. Auf den ersten Blick ist die Sozionik daher scheinbar genau das gleiche wie die Typologie von MBTI(Myers Briggs), David Keirsey und Co., nur eben auf Ukrainisch und Russisch. Doch die Sozionik ist mehr als das. Im Detail offenbaren sich erhebliche Unterschiede zur westlichen Typologie, denn in der Sozionik gibt man sich nicht mit den 16 Typen zufrieden. Man versucht dort, noch viel mehr in die Theorie hinein zu interpretieren und die Persönlichkeit berechenbar zu machen.
Gesichtserkennung – zeig mir wer du bist!
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Visual Identification Test auf socionics.com
Das wohl faszinierendste Element der Sozionik ist die Gesichtserkennung, die so genannte “Visual Identification”. Demnach soll anhand der Gesichtszüge eines Menschen dessen Typ bestimmt werden können. Und das angeblich sicherer und fehlerfreier als mit einem herkömmlichen Persönlichkeitstest. Die Theorie ist, dass bei einem Menschen die Charaktereigenschaften im Aussehen durchscheinen, so als wenn man verschiedene Bauklötze in einen losen Sack stecken würde.
Dieser Gedanke ähnelt der sehr umstrittenen Physiognomik. Wissenschaftlich gesehen ist beides Unsinn: in Studien* hat man festgestellt, dass wir Gesichter zwar mit bestimmten Klischees über die Persönlichkeit verbinden, dass diese Klischees aber unbegründet sind (ähnlich den Klischees über andere Länder). Wir interpretieren schnell etwas in ein Gesicht hinein und fühlen uns dann oft in unserem Urteil bestätigt, obwohl es nicht stimmt. Es tritt ein Placebo-Effekt ein: die vermeintliche korrekte Einschätzung ist reine Einbildung, denn in Wirklichkeit stimmen die von uns wahrgenommenen Klischees nicht. Eine ausführliche Erklärung dazu im Artikel von letzter Woche, “Wie wir uns täuschen lassen“.
Natürlich mag es sein, dass wir minimale, aber wirklich nur minimale Charaktereigenschaften aus einem Gesicht lesen können (ein interessanter englischer Artikel dazu findet sich beim New Scientist). Und natürlich lässt sich einiges über die Persönlichkeit anhand von Körpersprache und Mimik, also dem Verhalten eines Menschen, erkennen. Aber aus einem Bild des Gesichtes lässt sich definitiv nicht der Typ eines Menschen ablesen. Wenn es doch so wäre, könnten “Experten” auf diesem Gebiet ganz einfach den Beweis dafür erbringen, indem sie Menschen unter kontrollierten Bedingungen korrekt einschätzen. Aber sie konnten und können es nicht. Weil es nicht geht.
Die Visual Identification wird von Sozionik-Begeisterten im Internet dennoch häufig praktiziert, besonders auch bei Promis (z.B. auf socionics.com). Allerdings gibt es keinerlei Richtlinien, Regeln oder Anleitungen dazu. Jeder beruft sich lediglich auf die eigene Intuition. Dementsprechend sind die Ergebnisse bei eingeschätzten Promis meist sehr unterschiedlich. Auch Tests von Forenusern, die ihren Typ bereits kennen und ein Bild von sich posten, um sich einschätzen zu lassen, verlaufen meist negativ. Damit ist die Gesichtserkennung nicht mehr als ein Spiel ohne Aussagekraft. Ähnlich ist es auch in anderen Bereichen der Sozionik.
Mathematik als Beziehungsratgeber
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Erinnert an den Chemieunterricht – Sozionik Beziehungstabelle auf socionicsdemystified.com
Es gibt in der Sozionik exakte Tabellen dafür, welcher Typ mit wem welche Beziehung hat, z.B. Lehrer – Schüler Verhältnis, Spiegel oder Superego. Manche Beziehungen sind zum scheitern verurteilt, andere haben einen Nutznießer und einen Ausgenutzten.
Die Aussicht berechenbarer Beziehungen ist zugegebenermaßen verlockend. Dieser Theorie der “Intertype Relations” nach könnte man zwei Menschen nehmen, ihre Typen bestimmen (allerdings lieber nicht mit Visual Identification), und wüsste dann genau wie sie sich untereinander verhalten. Ganz besondere Aufmerksamkeit kommt dem so genannten Dual zu, dem optimalen Partner, dessen Persönlichkeit sich perfekt mit der eigenen ergänzt und das für jeden ein bestimmter Typ ist.
Klingt super. Das Problem dabei ist nur: es funktioniert überhaupt nicht. Denn unsere Beziehungen sind derart individuell und von so vielen hunderten Faktoren abhängig, dass sie nicht vorhersagbar oder gar berechenbar sind. Die Aussagekraft dieses mathematischen Beziehungsmodelles ist gleich Null. Es stimmt nicht mit der Realität überein, erkennt noch nicht einmal Tendenzen. Es gibt keine Studien oder Forschungen dazu, und auch ein Laie merkt schnell, dass es sich hierbei um eine mathematische Utopie handelt, die nicht viel mit der realen Welt zu tun hat. Entstanden ist dieses Luftschloss durch die Theorie der Funktionen:
Das berechnete Unterbewusste – die Funktionen
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Symbole der Funktionen
Durch die so genannten Funktionen, die sich an der ursprünglichen Arbeit Carl Gustav Jungs orientieren, lässt sich laut Sozionik herausfinden, wie ein Mensch psychologisch tickt. Sie stehen für fest verankerte Denk- und Verhaltens-Grundzüge, dargestellt durch geometrische Symbole. Ist die Angabe des Typs nur ein grobes Verhaltensmuster, so erklären die Funktionen ganz genau, wie wir Informationen aufnehmen, welche Verhaltensweisen dominant sind, welche sekundär, wie wir unterbewusste Entscheidungen treffen und so weiter…
Diese Funktionstheorie ist sehr komplex, abstrakt und voller Unklarheiten und Fallen. Selbst wenn man sich einmal hineingearbeitet hat, wirft sie mehr Fragen als Nutzen auf. Denn die Funktionstheorie ist reines Wunschdenken, die Persönlichkeit eines jeden Menschen exakt berechnen und mit Tabellen darstellen zu können. Dies wurde bereits in Studien* und Artikeln zum amerikanischen MBTI belegt, denn dort ist das Problem mit der Funktionstheorie genau das Gleiche (siehe dazu Jung & MBTI – der Irrtum von Funktionen und Typdynamik (1) sowie Die Funktionen nach Jung).
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Beispiel der Funktionen für den Typ ITLG Wissenschaftler
Der Aufbau dieser psychologischen Grundfunktionen richtet sich nach einer festen Schablone, ist immer gleich für jeden Typen. Und genau da liegt das Problem: individuelle Unterschiede von Person zu Person werden überhaupt nicht berücksichtigt. Dabei macht gerade das Individuelle die Persönlichkeit aus. Die Funktionen aber sind eine starre mathematische Formel, die fest vorgibt, wie die Persönlichkeit zu funktionieren hat, ähnlich dem realitätsfernen Beziehungsmodell der Intertype Relations. Die Funktionstheorie spiegelt in keiner Weise das tatsächliche Verhalten einer Person wieder, sondern erzielt maximal einen Placebo-Effekt, wenn wir uns in Teilen davon wiedererkennen.
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Die abstrakten Funktionen in der Sozionik und ihre Bedeutungen auf socionics.us. Ausführliche Beschreibungen unter socioniko.net.
Warum wird die Funktionstheorie dennoch verwendet? Weil sie eine vermeintliche Erklärung dafür liefert, wie unsere Persönlichkeit funktioniert. Denn wir können unsere Persönlichkeit zwar mit verschiedenen Tests erfassen und beschreiben, aber erklären warum und wie dies alles funktioniert, das können wir bis heute nicht. Deswegen übt diese vermeintliche Erklärung eine so große Faszination aus, obwohl sie komplett an der Realität vorbeigeht.
“Socionics – The new Psychology?”
Ist die Sozionik also das nächste große Ding, als das sie von ihren Anhängern oft präsentiert wird? Nein. Erstaunlich ist der Unterschied in der Selbstwahrnehmung der Sozionik im Vergleich zur Realität: Sozioniker selbst sehen die Sozionik als echte Wissenschaft und Psychologie. Socionics.com titelt beispielsweise “Socionics – The new Psychology”. Allerdings gibt es keine einzige(!) wissenschaftliche Studie im Bereich der Sozionik, es wird an keiner Uni gelehrt, professionelle Psychologen haben noch nie davon gehört und in der wissenschaftlichen Persönlichkeitsforschung ist die Sozionik gänzlich unbekannt bzw. wird ignoriert.
Zwar gibt es in Russland und der Ukraine mehrere private Sozionik-Schulen und Institute, jedoch betreibt auch von diesen niemand ernsthafte Forschung. Es werden lediglich Theorien und Ideen ausgetauscht. Denn was in der Sozionik als Fakten präsentiert wird, sind in Wirklichkeit leider nur persönliche Anekdoten, Erlebnisse, Meinungen und Theorien.
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Clik here to view.Im russischsprachigen Raum, insbesondere in der Ukraine, genießt die Sozionik eine gewisse Beliebtheit, ähnlich wie der MBTI und Keirsey in den USA. Im englischsprachigen Internet gibt es jede Menge Seiten und Diskussionen zu Socionics (mehr dazu unten). Von den zahlreichen russischsprachigen Büchern hat es bisher nur ein einziges zu einer (etwas holprigen) englischen Übersetzung geschafft: An Introduction to Socionics von Ekaterina Filatova.
In Deutschland ist die Sozionik als Persönlichkeitstheorie nahezu völlig unbekannt. Abgesehen von typentest.de gibt es nur eine einzige deutschsprachige Seite, die sich mit dem Thema befasst und einige Hintergründe erklärt: Typen und mehr.
Die berechnete Persönlichkeit, der ideale Mensch
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Der ideale, berechnete Mensch?
Die Sozionik versucht, die menschliche Persönlichkeit und zwischenmenschliche Beziehungen mathematisch zu erfassen. Sie versucht, unser Verhalten und unsere Beziehungen bis ins kleinste Detail berechnen und vorhersagen zu können. Und scheitert.
Das Problem der Sozionik ist ihre Endgültigkeit, ihr starres festhalten an Formeln und Tabellen: die individuelle Persönlichkeit eines Menschen spielt keine Rolle, sondern in der Sozionik MUSS jeder in ein bestimmtes Muster passen, welches genau festlegt, mit wem er welche Art von Beziehung führt, was seine herausragenden Charaktereigenschaften sind und was seine unterentwickelten. Für individuelle Unterschiede, die von den starren Formeln der Sozionik abweichen, ist kein Platz. Es ist die mathematische Fantasie eines Idealzustandes, der weder in der Realität, noch im Ideal funktioniert.
Wissenschaft und Psychologie haben schon Mühe damit, überhaupt unsere grundlegenden, sichtbaren Persönlichkeitseigenschaften klar zu definieren, siehe die wissenschaftlichen Big Five, dass Hexaco-Modell oder Reiss Profile. Auch die 16 Typen vom Typentest sind nur eine Generalisierung, die nicht auf jeden exakt passt, siehe Gibt es Typen?. Da brauchen wir mit einem System zur exakten Berechnung unserer unterbewussten Vorgänge erst gar nicht anfangen. Denn das geht nicht.
Hätte die Sozionik Recht mit ihrer starren Formel zur Berechnung unseres Verhaltens, wäre die Welt ein langweiliger Ort und alle Menschen sehr berechenbar. In Wirklichkeit sind wir alle jedoch sehr individuell und teilen uns nur generelle Charaktereigenschaften, die im Typentest z.B. in den 16 Typen zusammengefasst werden, in denen man auch schwanken oder sich mehreren zuordnen kann. Lieber Individualität als Berechnung!
Fazit: Sozionik ist ein Placebo
Die Sozionik ist sehr ambitioniert, schießt aber leider mit ihren gut gemeinten, teils unhaltbaren und kuriosen Theorien weit übers Ziel hinaus. Was bleibt, ist das bekannte System der 16 Typen und jede Menge Diskussionsstoff, was an der Sozionik ernst zu nehmen ist und was nicht. Das Meiste davon funktioniert jedenfalls nur in unserem Kopf, nicht in der Realität.
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“What if Socionics” Meme Bild von troll.me
Weitere Links zu englischen Socionics / Sozionik-Seiten:
Socionics in der englischen Wikipedia
Größte englische Socionics-Seite: socionics.com
Eigene Socionics Wikipedia: Wikisocion
Größtes englisches Socionics-Forum: The16types.info
Quellen:
* Facing faces: studies on the cognitive aspects of physiognomy, Hassin R; Trope Y, 2002
* New Scientist: How looks betray your personality
* Reynierse, James H, The case against type dynamics, Journal of Psychological Type, 2009
* Reinterpreting the Myers-Briggs Type Indicator From the Perspective of the Five-Factor Model of Personality, Robert R. McCrae, Paul T. Costa Jr., 1989
* sowie die Blogartikel mit weiteren Quellen: Gibt es Typen?, Jung & MBTI – der Irrtum von Funktionen und Typdynamik (1), Die Funktionen nach C.G. Jung – Fakt oder Interpretation?, Die Funktionen nach Jung und Wie wir uns täuschen lassen.
Ähnliche Artikel: Disg, Berufstest, Charakterstärken-Test VIA-IS
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